DON’T NODs neuestes narratives Adventure hat ein interessantes Konzept und eine tolle Atmosphäre. Aber reicht eine einzige Mechanik und die Story, um das Spiel zu tragen? Das klären wir in unserem Harmony: The Fall of Reverie Test.
Harmony: The Fall of Reverie wurde im Februar im Rahmen der Nintendo Direct angekündigt. Schon damals sorgte die Idee hinter der Spielmechanik für einiges Aufsehen. Denn in diesem narrativen Adventure im Stil einer Visual Novel werden Euch laut offizieller Webseite die Konsequenzen Eurer potenziellen Entscheidungen (zumindest teilweise) schon im Voraus verraten.
Wenn man aber schon vorher weiß, welche Folgen die Entscheidungen haben werden, was bleibt vom Reiz eines narrativen Adventures dann überhaupt noch übrig? Kann das klappen?
Nach unserem ausgiebigen Harmony: The Fall of Reverie Test auf dem PC haben wir eine Antwort auf diese Frage für Euch.
Die Geschichte zweier Welten
In Harmony: The Fall of Reverie schlüpfen wir in die Rolle von Polly. Die junge Datenanalystin kehrt nach vielen Jahren in ihre Heimatstadt Atina zurück, um ihre verschwundene Mutter zu suchen.
Dabei gelangt Polly in die Parallelwelt von Reverie. In dieser Welt leben die sogenannten Bestrebungen. Wesen, welche die Träume und Hoffnungen der Menschen repräsentieren und jeweils einen von sechs Aspekten verkörpern: Seligkeit, Macht, Bindung, Wahrheit, Chaos und Ruhm. Doch der Welt von Reverie geht es schlecht und so muss Polly neben der Suche nach ihrer Mutter auch den Bestrebungen helfen.
Schon bald lernen wir, dass sich alle Geschehnisse in Reverie und der realen Welt gegenseitig beeinflussen. Die beiden Welten existieren in einer Art Symbiose. Geht es der einen schlecht, leidet auch die andere. Polly nimmt dabei als eine Art Auserwählte eine besondere Rolle ein. Als Orakel ist sie das Bindeglied. Ihre Entscheidungen bestimmen die Zukunft der beiden Welten.
Visual Novel mit solidem Storytelling
Schnell scheint klar zu sein, dass der Technologiekonzern MK, der von Energie- bis Gesundheitsversorgung alle wichtigen Systeme von Pollys Heimatstadt kontrolliert, hinter allen Problemen steckt. MK muss also gestoppt werden! Und so nehmen wir mit Polly und einem kleinen zusammengewürfelten Haufen ihrer Freunde und Familie den Kampf gegen den übermächtigen Konzern auf.
Vordergründig wird also eine David-gegen-Goliath-Geschichte erzählt: Eine Gruppe Außenseiter gegen den bösen Technologieriesen. Eigentlich geht es in Harmony: The Fall of Reverie aber um Pollys persönliche Entwicklung, die sie aufgrund der gewaltigen neuen Verantwortung, die ihr als Orakel auferlegt wird, nimmt. Und die wird vor allem durch ihre Beziehungen zu den Menschen in ihrem Leben bestimmt.
Entscheidungen mit begrenzter Tragweite
So müssen wir als Polly schwierige Entscheidungen treffen, bei denen wir zwischen dem Wohl unserer Freunde und Familie und dem von Atina wählen müssen. Soll Polly zum Beispiel den Plan ihrer Mutter verfolgen und ihre Halbschwester Nora damit in Gefahr bringen? Oder soll sie sich lieber an den Plan von Nora und der Aktivistin Jade halten und ein Scheitern riskieren?
Diese Entscheidungen zu treffen fällt aufgrund der möglichen Konsequenzen vor allem zu Beginn nicht leicht. Doch schnell wird deutlich, dass die meisten dieser Entscheidungen nur geringe Tragweite besitzen. Oft werden nur unterschiedliche Unterhaltungen freigeschaltet, doch das Ergebnis am Ende eines Kapitels im Bezug auf die Story bleibt dasselbe. Nur eine Handvoll Entscheidungen haben tatsächlich größere Auswirkungen auf die Geschichte, die wir erleben.
Dadurch entsteht teilweise das Gefühl, dass man sich lediglich durch eine Art lineare Geschichte hindurchklickt. Eine Geschichte mit einer teils recht komplizierten Struktur. Im Kodex, der zusätzliche Infos zu Personen und Orten bietet, mitzulesen ist da fast schon Pflicht, um den Überblick zu behalten. Und so brauchten wir bei unserem Harmony: The Fall of Reverie Test etwas Zeit, um mit der Story warm zu werden.
Blasse Feinde, charismatische Verbündete
Das liegt auch daran, dass es das Spiel verpasst, seinen Bösewicht – den Konzern MK – anschaulich als eine skrupellose Firma, die im Notfall auch über Leichen geht, darzustellen. Gegen einen abstrakten Bösewicht ohne Gesicht zu kämpfen, bei dem es schwerfällt zu verstehen, warum man ihn eigentlich so böse finden soll, ist nun mal nicht allzu aufregend. Dennoch ist das gesamte Szenario eine angenehme Abwechslung zu Fantasy-Schurken und Super-Villains.
Ganz im Gegensatz zu MK stehen Pollys Freunde und die Bestrebungen. Hier zeigt das Spiel eine seiner Stärken. Alle Charaktere sind mit interessanten und vor allem glaubhaften Persönlichkeiten ausgestattet. Zwar holpern die deutschen Dialoge an einigen Szenen ein wenig, doch die englische Version mit ihren tollen Voiceovers macht wirklich Spaß. Von der zurückhaltenden und sanften Nora über die selbstbewusste und laute Jade bis hin zu den Bestrebungen wie Macht und Ruhm. Alle Sprecher sind passend gewählt, ausdrucksstark und erwecken so die Charaktere zum Leben.
Die Mantik – Das Herz und die Seele des Spiels
Das Gameplay in den fünf Akten der Geschichte besteht darin, dass wir permanent Entscheidungen treffen, welche den weiteren Verlauf der Geschichte bestimmen. Wollen wir im Kampf gegen MK lieber subtil vorgehen oder mit offenem Visier kämpfen? Wollen wir einer alten Bekannten, die jetzt für MK arbeitet, trauen oder nicht? Nach den einzelnen Visual-Novel-Szenen werden dazu in einem Entscheidungsbaum – der Mantik – die entsprechenden Knotenpunkte ausgewählt. Entschlüsse eröffnen neue Pfade für die Zukunft und verschließen andere.
Die Zukunft sehen…oder eben auch nicht
Und hier liegt nun die große Besonderheit des Spiels im Vergleich zu anderen story-basierten Titeln. In Spielen wie Detroit Become Human bekommen wir den Entscheidungsbaum mit allen möglichen Verästlungen erst nach dem Ende eines Kapitels zu sehen. Harmony: The Fall of Reverie enthüllt direkt zu Beginn eines jeden Kapitels den gesamten Baum und viele der möglichen Entscheidungen mit ihren jeweiligen Konsequenzen. Und das hat Auswirkungen auf die Spielweise.
Natürlich kann man immer noch jede Entscheidung einzeln betrachten und sich so von Knoten zu Knoten hangeln, ohne einen bestimmten Ausgang anzustreben. Doch dann verpasst man das, was das Spiel eigentlich ausmacht. Nämlich das Planen und Abwägen zwischen mit Sicherheit eintretenden direkten Konsequenzen einer Entscheidung und den langfristigen Folgen. Und das ist oft genauso spannend wie schwierig. Welche Opfer ist man bereit zu bringen, um das finale Ziel zu erreichen? Und ab welchem Punkt ist der Preis zu hoch? Soll Polly zum Beispiel das Leben ihrer Halbschwester Nora in Gefahr bringen, um MK zu stoppen? Oder soll sie sich lieber an einen sichereren Plan halten, der allerdings geringere Erfolgschancen hat?
Knoten + Kristalle = Komplexität
Solche Entscheidungen gibt es viele. Und man muss gut vorbereitet sein.
Denn für einige Knoten werden bestimmte Kristalle benötigt, die über vorangegangene Entscheidungen gesammelt werden und immer zu einer der Bestimmungen gehören. So liefert zum Beispiel die Entscheidung, im Team zu arbeiten Bindungs-Kristalle. Eine Entscheidung, die Dinge beim Namen zu nennen, liefert Wahrheits-Kristalle. Besitzen wir ausreichend der benötigten Kristalle, können wir entsprechende Entscheidung entsperren und auswählen. Wenn nicht, dann bleibt uns dieser Pfad verschlossen.
Ähnlich den Kristallen gibt es noch einige weitere Mechaniken. So sind manche Knoten gesperrt und können erst nach einer bestimmten Anzahl vorangegangener Entscheidungen ausgewählt werden. Andere sind unumgänglich und müssen ausgewählt werden, sobald man auf sie trifft. Wieder andere widerrufen die Folgen bereits gespielter Knoten.
Durch diese Bedingungen ergibt sich ein zusehend komplexes Gebilde, sodass bei unserem Harmony: The Fall of Reverie Test einige Zeit in die Planung des Weges durch die Mantik geflossen ist. Wer also gerne plant, wird hier seinen Spaß haben. Es ist durchaus möglich, genauso viel Zeit in der Mantik zu verbringen wie in den Szenen.
Besonders zu Anfang kann es jedoch immer wieder vorkommen, dass ein Weg, den man gehen wollte, versperrt bleibt, weil man eine der Bedingungen übersehen hat, die erst erfüllt werden muss, damit der Weg frei wird.
Leider nimmt die Anzahl an Entscheidungsmöglichkeiten mit voranschreitender Spieldauer ab. So kommt es in den letzten Kapiteln auch mal vor, dass zwar verschiedene Wege existieren und angezeigt werden, aufgrund einer getroffenen Entscheidung aus einem vorherigen Kapitel jedoch alle bis auf einen davon verschlossen bleiben. Dann verliert die Mantik ihren eigentlichen Sinn und dient nur noch als elaborierter „Weiter-Button“, um von einer Szene zur nächsten zu klicken.
Gimmick oder Genre-Revolution?
Dieser und ein paar andere Umstände sorgen dafür, dass der Effekt, in die „Zukunft sehen“ zu können, etwas verpufft. Wie schon angesprochen werden nicht immer alle Folgen von Entscheidungen verraten. So kommt es in Akt 3 gleich zu Beginn zu einer Situation, in der so gut wie alle Konsequenzen in der Mantik verdeckt bleiben. Man kann zwar einen Weg wählen, hat aber letztlich doch keinerlei Ahnung von den Auswirkungen.
Zusätzlich fühlen sich die verschiedenen Mechaniken der Mantik wie gesperrte oder unumgängliche Knoten vereinzelt etwas willkürlich an. Besonders ärgerlich ist es zum Beispiel dann, wenn sich ein Knoten erst in dem Moment als unumgänglich entpuppt, in dem man auf ihn trifft. Das kann schon mal den ein oder anderen Plan über den Haufen werfen und führt eher zu Frust und Verärgerung als Spaß.
Doch das macht auch wieder den Reiz des Ganzen aus. Denn würde man die komplette Geschichte und alle möglichen Ausgänge schon von vornherein kennen, wäre das Spiel sicherlich eine recht langweilige Angelegenheit. Insgesamt haben die Entwickler hier also einen guten Mittelweg zwischen Gewissheit und Spannung gefunden.
Damit liefert das Spiel keine bahnbrechende Innovation à la Bullet-Time oder Double-Jump. Aber für alle, die gerne Neues ausprobieren und Spaß an narrativen Spielen haben, kann sich ein Blick lohnen. Dennoch tut das Spiel gut daran, diese Mechanik mit einer ansprechenden Optik und einer interessanten Geschichte zu unterstützen.
Fazit
Mit Harmony: The Fall of Reverie liefert DON’T NOD eine liebevoll gestaltete Visual Novel mit interessanter Mechanik. Besonders die englische Sprachausgabe ist dabei positiv hervorzuheben. Wer storybasierte Spiele mag, findet hier eine Geschichte, die trotz einiger Anlaufschwierigkeiten unterhaltsam ist.
Der große Knall bleibt jedoch aus. Die Idee, dem Spieler die Konsequenzen getroffener Entscheidungen schon im Voraus zu verraten, ist nicht mit letzter Konsequenz umgesetzt. Etwas zu oft weiß man letztlich doch nicht genau, zu welchen Ergebnissen eine Entscheidung führen wird. Und so verpufft der Effekt ein wenig. Dennoch sorgt Harmony: The Fall of Reverie mit dieser Mechanik für frischen Wind.
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