Das Spielejahr 2025 wurde geprägt von einem außergewöhnlichen Titel: Clair Obscur: Expedition 33. Ein Spiel, das frischen Wind in die festgefahrenen Entwicklungsroutinen brachte, ein Spiel, das die poetische Erzählweise eines französischen Arthouse-Films mit moderner Game-Mechanik verband und als Krönung dafür mit Preisen überhäuft wurde. Doch seit Kurzem trägt Clair Obscur auch einen Makel. Ausgerechnet in dem Moment, als die Erfolgsgeschichte auf ihr verdientes Happy End zusteuerte, kam die schlechte Nachricht: Die Indie Game Awards haben dem Spiel beide gewonnenen Titel aberkannt, sowohl den Titel „Game of the Year“ als auch den Titel „Best Debut“. Die Begründung: Das Studio hat im Entwicklungsprozess generative KI genutzt, ohne dies transparent zu kommunizieren.
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Expedition 33 – 3,3 Mio. Verkäufe in 33 Tagen
Clair Obscur: Expedition 33 – die fabelhafte Geschichte beginnt
Der Start der Entwicklung begann bescheiden, ruhig, bedacht, fast genauso wie das Intro des Spiels selbst. Aber anstatt auf den Dächern eines zerstörten Paris, beginnt die Entwicklung des Spiels in einem Theater in einer Nebenstraße des echten Paris, wo Schauspieler mit Smartphones in der Hand und Skripten voller melancholischer Inhalte Motion-Capture-Szenen aufzeichneten. Aber nicht um einen romantischen Arthouse-Film zu drehen, sondern um ein Videospiel zu entwickeln. Dabei handelte es sich um das Herzensprojekt von Guillaume Broche, der während der Pandemie seinen Job bei Ubisoft kündigte, um mit einem kleinen Team seinen großen Traum zu wagen: ein erzählerisch tiefes, visuell kunstvolles RPG ohne Millionenbudget.
Hier beginnt die fabelhafte Geschichte eines Teams, das aus leidenschaftlichen Quereinsteiger:innen und kreativen Ausnahmetalenten besteht. Allen voran Guillaume Broche, ein Visionär, der sich das Regiehandwerk autodidaktisch über YouTube aneignete und seine Crew über Reddit, SoundCloud und ArtStation zusammenstellte. Dazu die Autorin Jennifer Svedberg-Yen, die zuvor in der Finanzwelt tätig war und der Geschichte ihren emotionalen Tiefgang verlieh. Und Lorien Testard, einst Gitarrenlehrer, dessen Soundtrack später die klassischen Musikcharts anführte – noch vor Alben von Yo-Yo Ma und Andrea Bocelli. Gemeinsam gründeten sie Sandfall Interactive und schufen ein Spiel, das mehr Leidenschaft, Kunstsinn und Vision vereint als so mancher AAA-Titel mit hundertfachem Budget.
Bereits kurz nach dem Release konnte Sandfall Interactive die Filmrechte an der Geschichte verkaufen. Dabei wäre die Entstehungsgeschichte von Clair Obscur: Expedition 33 selbst Stoff für einen ebenso packenden Spielfilm.

Die Welt von Lumière – schön, grausam, unverwechselbar
Clair Obscur entführt die Spieler:innen in eine fiktive Version des Paris der Belle Époque. Dort zeichnet eine geheimnisvolle Figur, die Paintress, Jahr für Jahr eine neue Zahl auf einen Obelisken. Alle Menschen, die das Alter erreichen, welches dieser Zahl entspricht, werden Opfer der sogenannten Gommage, einer mysteriösen und plötzlichen Auslöschung bzw. „Ausradierung“ der eigenen Existenz. Die jährlich entsandten Expeditionen sollen die Paintress und somit auch die Gommage aufhalten, bevor auch sie ausgelöscht werden.
Diese im Kern melancholisch-schöne surreale Fiktion ist durchzogen von emotionaler Realität, von Verlust, Elternschaft, dem Altern, von Schuld und dem Wunsch nach Bedeutung innerhalb der Familie und für die Gemeinschaft. Die Idee, so erzählt Broche, entstand nach einem Gespräch mit seiner Mutter und ihrer Aussage: „Das Schlimmste wäre, meine Kinder zu verlieren.“ Diese emotionale Tiefe steckt in jedem Winkel des Videospiels und verfolgt die Spieler:innen auf Schritt und Tritt.

Ein sehr französisches Spiel: Pantomimen, Melancholie und baguetteförmige Waffen
Ein wesentlicher Teil des Erfolgs von Clair Obscur: Expedition 33 liegt wohl auch in seiner kulturellen Verortung begründet. Die Geschichte könnte kaum französischer sein. Sie atmet den Geist der Belle Époque, nutzt visuelle und erzählerische Mittel, die tief in der französischen Kultur verankert sind und schafft damit bewusst Nähe zum Arthouse-Kino, die aber niemals aufgesetzt wirkt. Die Welt von Clair Obscur besteht aus stilvollen Berets, furchteinflößenden Mimen, impressionistischen Farbwelten, einer morbiden Eleganz und einem trockenen, subtilen Humor, der an Filme wie Die fabelhafte Welt der Amélie erinnert. All das wird nicht als klischeehaftes Abziehbild inszeniert, sondern mit einem charmanten Augenzwinkern.
Das Ergebnis ist ein selbstironischer und gleichzeitig zutiefst authentischer Stil, der an Spiele wie Persona oder Final Fantasy erinnert, die sich auf ähnliche Weise ihrer japanischen Wurzeln nicht nur bewusst sind, sondern sie aktiv als kreative Quelle nutzen. Dementsprechend schöpft Clair Obscur aus dem reichen Fundus französischer Identität und etabliert einen Ton, der zwischen Pathos, Poesie und Parodie wandelt.

Ein Gegenentwurf zu modernen Blockbustern: Keine überladene Open World, dafür Struktur, Eleganz und Taktik
Auch das Gameplay stellt einen wichtigen Bestandteil in der fabelhaften Geschichte dieses außergewöhnlichen Spiels dar. Statt sich dem Druck aktueller Open-World-Trends zu beugen, setzt Clair Obscur auf klassische RPG-Strukturen: linear gestaltete Levels und rundenbasierte Kämpfe in klar abgegrenzten Arenen sind bewusste, stilvolle Entscheidungen. Jedes Element des Spiels wirkt kuratiert, gezielt gesetzt, handverlesen und dramaturgisch auf den Punkt gebracht.
Mit Hilfe von Unreal Engine 4, im späteren Verlauf Unreal Engine 5, gezieltem Outsourcing und einer klaren kreativen Vision gelang es Sandfall Interactive, mit einem Budget von unter zehn Millionen Dollar ein Spiel zu erschaffen, das nicht nur mit millionenschweren Großproduktionen konkurriert, sondern sie in manchen Aspekten sogar überragt.
Der Knacks in der fabelhaften Welt von Clair Obscur
Bei den Game Awards triumphierte das Spiel in gleich neun Kategorien, darunter Game of the Year, Best Narrative, Best Art Direction und Best Score. Auch die Indie Game Awards kürten Clair Obscur zum Debut Game of the Year und Indie Game of the Year.
Doch die Freude währte nur kurz: Zwei Tage nach der Verleihung wurden beide Indie-Auszeichnungen aberkannt. Der Grund: die Verwendung generativer KI während der Entwicklung. Laut der Organisation der Indie Game Awards hatte Sandfall Interactive bei der Einreichung des Spiels erklärt, keine KI‑generierten Assets verwendet zu haben, ein Umstand, der das Spiel andernfalls automatisch aus dem Wettbewerb ausgeschlossen hätte. Erst am Abend der Preisverleihung wurde öffentlich, dass bei Release einige Texturen KI-generiert waren. Auch wenn diese kurz darauf durch handgefertigte Assets ersetzt worden sind, die Jury entschied sich dennoch zur Disqualifikation und verlieh die Preise nachträglich an die Spiele Sorry We’re Closed (Debut Game) und Blue Prince (Indie Game of the Year).

Clair Obscur’s neue Rolle: Zwischen Kunst und Verantwortung
Die Aberkennung ist ein großer Makel, der die fabelhafte Geschichte des Spiels nachhaltig trübt. Für die Fans und das Team wird der emotionale Gehalt des Spiels unbestritten bleiben, doch der Fall zeigt, wie sensibel das Thema KI in kreativen Prozessen geworden ist und dass die enorme Arbeit des kleinen Teams nun durch die Verbindung zu KI weniger geschätzt werden wird.
Ob beabsichtigt oder nicht, Clair Obscur ist zu einem Meilenstein für eine Branche im technologischen Umbruch geworden. Kaum ein anderes Spiel steht derzeit so sehr für die grundlegenden Fragen unserer Zeit: Wie viel Technologie ist in kreativen Prozessen vertretbar und wo verläuft die Grenze? Wo endet persönliche Inspiration, wo beginnt automatisierte Inhaltserzeugung? Und vor allem: Wie transparent muss Spieleentwicklung heute sein? Eine Frage, die nicht nur Clair Obscur, sondern die gesamte Branche in Zukunft begleiten wird.
Sandfall selbst hat nach dem Rückschlag noch kein Statement veröffentlicht. Ob aus juristischen Gründen oder aus Respekt bleibt offen.

Fazit: Ein fabelhaftes Spiel mit einem Makel, der bleibt
Clair Obscur: Expedition 33 bleibt ein Ausnahmespiel. Ein Titel, der Herzen bewegt, Gamer:innen begeistert und Grenzen verschiebt. Es ist ein Spiel, das zeigt, das Videospiele wahre Kunstwerke sein können: ästhetisch, politisch, poetisch und noch mehr.
Doch nun ist es auch ein Mahnmal. Ein Spiel, das auf dem Weg zum größtmöglichen Erfolg für manche einen Schritt zu weit gegangen ist. Nicht aus böser Absicht, sondern vielleicht aus Effizienzdenken oder aus technischer Naivität. Der Fehler, der bleibt, ist nicht das Verwenden von KI in der Entwicklung, sondern das Schweigen darüber. Aber genau deshalb bleibt es auch in diesem Aspekt wichtig. Weil es uns daran erinnert, dass auch Visionäre Fehler machen können und dürfen und dass Kunst dann am wertvollsten ist, wenn sie ehrlich bleibt.

