Was Marielle weiß“: Wenn Privatsphäre zur leeren Hülle wird
Die Tochter kann plötzlich alles hören und sehen, was ihre Eltern erleben: „Was Marielle weiß“ ist ein kluger Film über Alltagslügen und die peinlichen Ausbruchsfantasien in Familien.
In Frédéric Hambaleks zweitem Spielfilm erlangt eine 13-Jährige nach einer Ohrfeige die Fähigkeit, alles zu sehen und zu hören, was ihre Eltern tun – ein originelles Gedankenexperiment, das die Grenzen zwischen Wahrheit, Lüge und Manipulation in Familien auslotet und dabei sowohl höchst unterhaltsame als auch schmerzlich entlarvende Momente schafft.
Die unfreiwillige Überwacherin
Im Zentrum des Films steht ein einfacher, aber genialer Einfall: Was passiert, wenn ein Kind plötzlich alles mitbekommt, was seine Eltern tagsüber treiben? Nach einem Streit mit einer Klassenkameradin und der daraus resultierenden Ohrfeige kann die 13-jährige Marielle (Laeni Geiseler) alles sehen und hören, was ihre Eltern Julia (Julia Jentsch) und Tobias (Felix Kramer) tun und sagen – immer und überall. Diese ungewollte „Superkraft“ verändert schlagartig die Familiendynamik. Als Marielle beim Abendessen die geschönten Erzählungen ihrer Eltern spontan korrigiert – nein, Papa hat seinen Kollegen keineswegs in die Schranken gewiesen, und Mama raucht heimlich – beginnt das bürgerliche Kartenhaus zu wackeln.
Starke darstellerische Leistungen in steriler Umgebung
Die größte Stärke des Films liegt zweifellos in der präzisen Beobachtung menschlichen Verhaltens und der darstellerischen Umsetzung. Felix Kramer glänzt als linkisch-hilfloser Vater, der zwischen beruflicher Unsicherheit und väterlicher Autorität pendelt und dabei oft kläglich scheitert, aber dennoch Wärme und Menschlichkeit bewahrt. Julia Jentsch verkörpert eine komplexere Figur – ihre Julia wird von manchen Kritikern als „spröde“ empfunden, zeigt aber in ihren subtilen Reaktionen den inneren Konflikt einer Frau, die zwischen Familienleben und eigenen Bedürfnissen zerrissen ist.
Die junge Laeni Geiseler überzeugt als unheimliches Kind, das unfreiwillig zur Überwachungsinstanz wird – mit all der Verunsicherung und Überforderung, die diese Rolle mit sich bringt. Der „Tanz der Blicke“ am Esstisch entwickelt eine eigene Dynamik: Wer sucht bei wem Bestätigung, wer wirbt um wen als Verbündeten, wer rechtfertigt sich vor wem?
Zwischen satirischer Schärfe und klinischer Kälte
Die Inszenierung des Films polarisiert. Während manche Kritiker die „Haneke-Kälte“ bemängeln, die durch den Film weht, sehen andere gerade in der reduzierten, klaren Bildsprache eine Stärke. Die Wohnungen und Büros wirken tatsächlich oft „zu nüchtern, mit Ansage neutralisiert“, sogar die Nummernschilder der Autos sind fiktiv. Diese sterile Atmosphäre schafft einerseits eine gewisse Distanz zum Geschehen, ermöglicht andererseits aber auch einen analytischeren Blick auf die Figuren und ihre Handlungen.
Hambalek gelingt dabei der Balanceakt zwischen Komik und Ernst. Trotz seines satirischen Bisses, der manchmal durchaus schmerzen kann, punktet „Was Marielle weiß“ mit einer Menge (schwarzem) Humo. Besonders die Szenen, in denen Marielle das Sexleben ihrer Eltern miterleben muss, entfalten eine tragikomische Kraft, die sowohl zum Lachen als auch zum Nachdenken anregt.
Gesellschaftskritik im Kleinen
Der Film beschränkt sich klugerweise darauf, seine gesellschaftskritischen Töne implizit anklingen zu lassen, statt mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln. Die Frage nach Privatsphäre und Überwachung wird nicht nur auf die Familie, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen. „Was Marielle weiß“ wird so zu einem „gesellschaftspolitischen Diskurs über Privatsphäre, Überwachung und die Fallstricke der Political Correctness“.
Die Idee zum Film entstand bezeichnenderweise, als Hambalek bei Freunden ein Babyfon mit Monitor sah, was er als übergriffig und als Angriff auf die Privatsphäre des Kindes empfand. Mit seinem Film dreht er nun den Spieß um und fragt: Was wäre, wenn ein pubertierender Teenager plötzlich Zugriff auf alle Intimitäten der Eltern hätte?
Kleine Lügen, große Konsequenzen
Eine weitere Stärke des Films liegt in seiner Beobachtung der kleinen Lügen und Auslassungen des Alltags. Wer hat nicht schon einmal eine Geschichte leicht aufgebauscht oder unangenehme Details verschwiegen? Der Film zeigt, wie diese vermeintlich harmlosen Flunkereien das Fundament einer Beziehung untergraben können, wenn plötzlich alles transparent wird. „Was Marielle weiß“ blickt „mit viel Gespür für kommunikative Ironie auf die kaum vermeidbaren Ausweich- und Vermeidungsmanöver zwischen Partnern – und auf ihr Verlangen, diese Abgründe zumindest zeitweilig zu überwinden“.
Fazit: Originelles Gedankenspiel mit kleinen Schwächen
„Was Marielle weiß“ besticht durch sein originelles „Was wäre wenn“-Gedankenspiel, das von den starken Darstellern gekonnt zwischen Komik und Ernst balanciert wird3. Der Film nutzt seine fantastische Prämisse, um tief in die Dynamiken einer Familie einzutauchen und dabei universelle Fragen nach Wahrheit, Lüge und Vertrauen zu stellen.
Die manchmal zu steril und distanziert wirkende Atmosphäre mag nicht jeden Zuschauer ansprechen, und einige der manipulativen Manöver der Eltern wirken gegen Ende etwas überkonstruiert. Doch gerade in seiner Reduktion auf das Wesentliche liegt eine große Stärke des Films – er überfrachtet sich nicht mit Nebenhandlungen, sondern konzentriert sich auf sein zentrales Gedankenexperiment und dessen Konsequenzen.
„Was Marielle weiß“ ist damit weit mehr als eine skurrile Komödie oder ein Familiendrama – es ist ein kluger Kommentar zu unserer Zeit, in der Privatsphäre zunehmend zur Verhandlungssache wird und die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem verschwimmen. Ein Film, der zum Nachdenken anregt und dabei glücklicherweise nie seine unterhaltsame Leichtigkeit verliert.
Die finale „Auflösung“ bleibt bewusst uneindeutig. Das wird viele als mutig empfinden – andere vielleicht als unbefriedigend. Es bleibt Raum für Interpretation, aber eben auch für Frust. Ein ruhiges, tiefgründiges Psychodrama über Erinnerung, Schuld und Selbstfindung – fordernd, aber lohnenswert.

