Die Spieleschmiede Bioware hat in den letzten Jahren deutlich an Glanz verloren. Die großmundigen Ankündigungen rund um den Blockbuster Anthem sollten vor Allem eins deutlich machen: Seht her, wir können es noch! Ob das geglückt ist oder ob Anthem mehr Schein als Sein ist, das versuchen wir hier in unserem Test zu klären.
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Der Begriff ‚Anthem‘ entstammt ursprünglich dem Bereich der Musik. Dort nutzt man das Wort für ein imposantes, fast schon majestätisches Werk. Etwas, das nachhaltig und pompös sein soll. Gerne auch eine Hymne, ein National Anthem. Kurzum also ein Stück, das eine tatsächliche und große Bedeutung besitzt. Schon bei dieser Analogie merkt man, dass die Macher des Videospiels Anthem also etwas wuchtiges geplant hatten. Ein Videospiel, das nicht eines unter vielen sein möchte, sondern eines mit hohem Stellenwert.
Hätte man mir das in Verbindung mit dem schillernden Namen Bioware in der ersten Dekade unseres Jahrtausends verklickert, ich hätte blind unterschrieben. Ja, das Ding wird klappen, das ist quasi dicht dran an dem, was man vielleicht als fail-save bezeichnen könnte. Und heute? Nun, Bioware stand schon einmal besser da, um es noch einigermaßen neutral und wohlwollend zu formulieren. Vom Alleinstellungsmerkmal ist kaum noch etwas übrig geblieben. Mitreißende Geschichten und ausgetüftelte Spielmechaniken wichen peu à peu dem Mainstream, dem Generischen und somit auch dem Austauschbaren. Anthem wird seinen Platz irgendwo in der Mitte all dieser Begriffe finden. Nicht wirklich schlecht, phasenweise sogar sehr stark, aber nachhaltig und erinnerungswürdig dann doch auch nicht. Dem Spiel fehlt es dabei schlicht an einer Identität. Man hat das Gefühl, dass Anthem die komplette Checkliste der Marktforschung, was derzeit ganz gut bei Videospielen ankommt, durchlaufen hat und nur zu diesem Zweck entwickelt wurde.
Dabei darf man mich an diesem Punkt nicht falsch verstehen. Kritik ist gut und wichtig, darf aber nicht unfair sein. Anthem ist kein schlechtes Spiel, ein mehr als solides sogar, aber es fehlt eben das Besondere. Eine Art Alleinstellungsmerkmal, um zu sagen: „Ja, das Ding hier rockt!“ Zu viele Dinge erinnern an ein The Division und viel eher noch an Destiny. Kratzt man an der Oberfläche, dann wird es bei diesem Resümee bleiben. Wagt man den Blick eine Etage tiefer, dann kristallisiert sich hier und da immer mal wieder heraus, dass Anthem kein weiterer 0815-Loot-Shooter ist. Und genau das ist der Punkt: Von Bioware erwartet man einfach keine Standardkost. Vielleicht ist es einfach die Erwartungshaltung an das Studio mit seiner prunkvollen Historie (Baldurs Gate, Never Winter Nights, Knight of the Old Republic, etc.) die mir die Fluse ins Ohr gesetzt hat, dass ich kein das-spiel-ich-mal-so-weg gelten lasse.
Auf der anderen Seite steht dann eben, dass man ohne diese Verknüpfung auch keinerlei Sorgen gegenüber Anthem haben muss. Hat man nicht diese gemeinsame Vergangenheit mit Bioware, dann ist dem Spieler das auf der Packung prangernde Label völlig egal. Der Name eines Entwicklerstudios eben, wie er auf jeder Spielhülle klebt. Vielleicht ist das im Bezug auf Anthem das beste, was einem passieren kann. Macht euch frei von Bioware und seiner Geschichte und ihr habt viel Freunde am Spiel.
Die Story von Anthem ist ganz OK. Nichts Besonderes, aber auch eben hier und da mit dem ein oder anderen Kniff. Auf der Spielwelt Bastion ist der Dreh- und Angelpunkt das schwer gerüstete Fort Tarsis, das dem Hub entspricht. Man bekommt Häppchensweise etwas erzählt über den Planeten, die Umwelt und die Freelancer. Letztere entsprechen der Sorte von Kämpfern, denen wir uns im Spiel anschließen. Lasst Euch nicht vom zeitlichen Sprung nach etwa rund einer Stunde Spielzeit verwirren. Er wird es tun, aber die Sache klärt sich im Verlauf immer weiter auf. Was tatsächlich für einige Fragezeichen über dem Kopf sorgt sind die vielen Begriffe, mit denen Anthem im Dauerakkord um sich wirft. Es wirkt fast so, als wäre dem Spiel ein Roman vorausgegangen, den man hätte lesen sollen. De facto macht alles Sinn, aber jede Kleinigkeit, Fraktion oder Situation bekommt in Anthem ein eigenes Namensschild verpasst. Für etwaige Nachfragen steht in die Optionen der Almanach parat, der jeden einzelnen Begriff erläutert. Das kann man so machen, es erschwert aber zumindest den Zugang zur Spielwelt, der einfacher hätte ausfallen können.
Der Charakterdesigner ist fester Bestandteil im RPG-Genre und kommt demnach auch bei Anthem zum Einsatz. Je nach eigener Vorliebe kann man hier recht detailliert sein alter ego zusammenschustern. Im anschließenden Tutorial bekommen wir dann die Mechaniken des Spiels erklärt: Bewegungen am Boden, Flugsteuerung mit dem Javelin, das Nutzen der Waffen und der Fähigkeiten.
Die Javelin sind dann auch ein Stück weit das Herzstück des Spiels, denn sie definieren letztlich die Klasse der Figur. Jeder der vier Kampfanzüge hat ganz eigene Funktionen, wodurch sich das Gameplay und der Kampf teils grundlegend voneinander unterscheiden. Hervorragend ist der Fakt, dass man jederzeit zwischen den einzelnen Kampfanzügen wechseln darf. Besonders im Multiplayer ist dies entscheidend, da hier die Vorteile im Team mit unterschiedlichen Javelins besser ausgespielt werden können. Dafür müssen die Anzüge zwar erst freigeschaltet werden, aber mit dem Fortschritt und dem damit verbundenen Level geschieht das fast von ganz alleine. Zumal es den zweiten Anzug dann auch schon mit dem Erreichen von Level 2 gibt.
Ranger: Jeder Freelancer, der in Anthem ein Spiel startet, beginnt als Ranger. Diese Klasse ist der Allrounder und somit sehr ausgewogen in seinen Skills. Das bedeutet, dass er z.B. sowohl großen AOE-, als auch Single-Target-Schaden zufügen kann. Sein breites Spektrum an Waffen und Modulen ist eigentlich immer gern gesehen an der Front. Zum Herantasten an Anthem ist der Ranger tatsächlich rundum gelungen. Im späten Spiel hingegen ist er sehr anpassungsfähig und kann durch verschiedene Builds flexibel gestaltet werden.
Colossus: Hier ist der Name Programm, denn der Colossus ist der schwere Tank im Team. An vorderster Front schützt er das Team, steckt Schaden ein und kann seinerseits auch ordentlich austeilen. Im Gegenzug ist er behäbiger als andere Javelins und kommt schwerer vom Fleck. Das macht er mit den schwersten Waffen wett und sorgt für pausenloses Bombardement.
Interceptor: Der Interceptor ist das genaue Gegenteil vom Colossus. Flinkt und wendig zu Boden und in der Luft ist er ein schwer zu fassender Gegner. Seiner Agilität fällt die Panzerung zum Opfer, wodurch der Interceptor nicht ganz so viele Trefferpunkte einsacken sollte. Das Motto hier lautet: Schnell ins Gefecht, massig Schaden austeilen und fix wieder raus aus dem Tumult.
Storm: Die Klasse des Storm entspricht in seinen Grundzügen der des Magiers. Mit elementaren Angriffen kann er ganze Scharen an Gegnern besiegen. Er sollte dies allerdings aus sicherer Distanz bzw. Höhe machen, denn was ihm an offensiven Kräften zusteht, fehlt ihm an defensiven. Wer also gerne Supporter spielt, der sollte sich am Storm versuchen.
Das eben erwähnte späte Spiel bzw. Endgame ist derzeit noch nicht ganz so prall gefüllt. Aus der Vergangenheit wissen wir, dass diese Art MMO-Loot-Shooter immer Häppchensweise im Laufe der Zeit mit neuen Inhalten gefüttert wird. Anthem macht hier keine große Ausnahme: Sobald ihr am maximalen Leven angekommen seid und die Story durch habt, tritt die bekannte Monotonie ein. Bis neuer content eintrudelt, muss man mit einem höheren Schweregrad Vorlieb nehmen oder man lootet einfach immer weiter in der Hoffnung, auf ein besseres Item zu treffen. Man kann nur hoffen, dass sich Bioware hier ein Beispiel an einem Diablo III nimmt, dass den Spieler permanent mit neuen Belohnungen füttert und dabei immer das Gefühl der Begierlichkeit hoch hält. Außerdem steht mit The Division 2 ein ganz ähnliches Spiel in den Startlöchern, das Anthem bei der Anzahl der Spieler in die Suppe spucken könnte. Nur kurz Orientierung: Derzeit gibt es drei Festungen, die mit besonders schweren und dafür aber auch besonders wertvollen Belohnungen auf die Spieler warten.
Die Kämpfe in Anthem sind eigentlich ganz gut gelungen. Wo man noch im ersten Moment die grandiose Spielwelt mit all ihren Facetten lobt, ist sie paradoxerweise in den Fights gelegentlich eher hinderlich. Es ist schon fast ein zu viel an Effekten und Geblinke. Daran gewöhnt man sich im Verlauf der Kampagne, wobei man immer mal wieder in Situationen gebracht wird, in denen man kurzzeitig nicht Herr der Lage ist oder zumindest das Gefühl hat. Maßgebend für den Spaß am Kampf sind nicht die vielfältigen Waffen, sondern die Spezialfähigkeiten der Javelin. Besonders dann, wenn sich das Team koordiniert und man Bosse mit vereinter Power ins virtuelle Nirvana schickt, entfaltet Anthem eine extreme Wucht. Wenn der Mage seine Elektrostürme entfesselt, der Interceptor mit irren Nahkampfattacken durch die Horden wuselt und der Colossus aus der Distanz das Schlachtfeld mit mächtigen Wummen bombardiert, genau dann leuchten während des Spielens die Augen.
Als Hub zwischen den Missionen dient Fort Tarsis, quasi die letzte Bastion der Zunft. Außer, dass hier die Geschichte stetig fortgesetzt wird, darf man mit vielen NPCs quatschen und erfährt so noch ein wenig über die Hintergründe. Ganz cool ist, dass man mit fortlaufendem Fortschritt auch hier und da Veränderungen am Fort erkennt, die immerhin für ein optisches Voranschreiten stehen. Fort Tarsis ist an sich ein gelungener Hub, dem es aber an Tiefe fehlt. Auch hier muss sich Bioware die Vergleiche zu älteren Spielen wie Dragon Age oder Mass Effect gefallen lassen. Es ist zwar alles da, aber es wirkt deutlich steriler, lebloser und oberflächlicher. Immerhin sind die Gespräche OK, selbsiges gilt für die Vertonung.
Fazit
Tja, und was bleibt nun hängen von Anthem? Sicherlich ein gutes Spiel, das seine Reize und Höhepunkte hat, aber viel mehr wird es nicht sein. Man muss zwangsläufig Vergleiche zu Destiny und Co. ziehen und hier muss man schlicht festhalten, dass Anthem kaum Argumente für sich bietet. Die Javelin sind sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal und diese haben es auch in sich, was den Spielspaß betrifft. Nur sind die Anzüge und die wirklich ausgezeichnete Spielwelt nicht genug Argument, um sich dem Spiel etliche Stunden widmen zu wollen. Zwischenzeitlich schob man einige Patches nach, die spürbar das Spielgeschehen glätteten und die gröbsten Patzer ausmerzte. Nur fehlt jetzt eben der Inhalt, um die Spielerschaft bei Laune zu halten. Angekündigt ist er und dann wird sich zeigen, ob Anthem auch dauerhaft punkten kann.