Solltet ihr im Supermarkt über einen Energiedrink namens OverCharge stolpern, dann lasst bloß die Finger davon. Es sei denn, ihr wollt euch freiwillig in einen Mutanten oder Zombie verwandeln. Ein Glück, dass der verseuchte Drink nur im virtuellen Sunset City verkauft wurde, wobei die Folgen für die Bewohner dort nicht minder katastrophal sind. So schlimm sogar, dass die Stadt zur Sicherheit komplett von der Außenwelt abgeschottet wurde. Und was machen wir? Als kleiner Noname haben wir augenscheinlich nicht den hauch einer Chance, auch nur ansatzweise die Gefahr zu überleben. Also machen wir doch einfach das Beste daraus und machen ein riesen Fass auf. Und damit rein in die Awesomecalypse!
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Damit aus besagtem Noname ein waschechter Held werden kann, benötigt er natürlich ein stylishes Outfit. Der Charaktereditor zu Beginn von Sunset Overdrive lässt erahnen, was in den kommenden rund 20 Stunden Spielzeit auf uns wartet: Eine schrille Ballerorgie, die eine so enorme Bandbreite an Farben auffährt, dass jeder Hippie vor Neid erblassen würde. Im Ernst, ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Xbox eine so extreme Farbpalette überhaupt wiedergeben kann und so manchen Farbton vom Spiel kann ich bis heute nicht klar definieren. Das überzeichnete visuelle Grundgerüst unterstreichend, darf man sich bei der Gestaltung des alter egos dann auch austoben, immer frei nach dem Motto einer asiatischen Automarke „Nichts ist unmöglich“. Allein an diesem Editor kann man schon eine halbe Ewigkeit verbringen und sich über die aberwitzigen Kombinationsmöglichkeiten amüsieren.
Im Spiel angekommen merkt man sehr schnell, dass Sunset Overdrive anders sein will, als übrige open world Shooter. Selbst ein Saints Row sieht im direkten Vergleich schon fast bieder aus und das will etwas heißen. Vergesst einfach, wie ihr offene Shooter bisher gespielt habt und lasst euch von Sunset Overdrive treiben. Sunset City ist eine Eintrittskarte in eine visuelle Reise fernab jeglichen Bezugs zur Realität.
Diese Reise gelingt aus einem Grund wie aus dem Bilderbuch. Normalerweise setzt uns ein vergleichbares Spiel wie inFamous oder Saints Row die Stadt vor und wir bewegen uns in ihr. In Sunset Overdrive aber wird man den Eindruck nicht los, dass die Stadt um die Spielfigur herum entwickelt wurde und beide fast schon eine Art Symbiose bilden. Das Zauberwort heißt Parcouring. Das an sich wäre ja noch nichts neues, aber die Art und Weise, wie die einzelnen Bewegungsabläufe ineinandergreifen, verweist jedes Tony Hawks oder Mirrors Edge klar in seine Schranken. Die wenigsten Wege legt man zu Fuß zurück. Nicht falsch verstehen, man könnte es, aber man macht es einfach nicht. Statt dessen wird nahezu jedes Element und Bauteil der Stadt zum Klettern, Springen und Grinden genutzt. Kleines Beispiel: Das Dach eines Autos wird mit einem Hops als Trampolin genutzt, um zur nächsten Gebäudekante zu gelangen, von der dann in einem Affenzahn über eine Hochspannungsleitung gerutscht wird. Noch schnell ein paar Meter an der Hauswand entlang geflitzt und schon sitze ich auf der Straßenlaterne, von wo aus ich Kimme und Korn auf den nächsten Mutanten nehme. Diese vielfältigen Bewegungsmechaniken greifen dabei wie Zahnräder ineinander, so dass alles absolut flüssig und logisch in den nächsten Move mündet.
Ich habe mich unzählige Male dabei ertappt, wie ich nicht nur einfach den Weg zum nächsten Missionsziel zurückgelegt habe. Nein, stylish musste es sein, noch einen Move mehr an die Kette gehangen und nur noch eine neue Route schnell erkunden. Herrlich, wie grandios diese Vertikalität des Spiels gelungen ist.
Um das Chaos zu komplettieren, muss man natürlich zwischen all dem Hüpfen und Grinden auch noch fiese Mutanten bekämpfen. Das kann mitunter sehr fordernd sein, denn durch die hohe Aggressivität der KI werden rumstehende Spieler fast sofort bestraft. Dass der Fight nicht überfordernd oder gar unfair wird, liegt wieder in Design und Gameplay begründet. Dank logischer Movements und leichtem Buttonlayout kann man das Effektfeuerwerk in seiner ganzen Pracht genießen. Die Passagen, an denen die Mechanik nicht funktioniert und man unfreiwillig aus der Bewegung gerissen wird, lassen sich an einer Hand abzählen. Einzig die Zielhilfe ist einen Punktabzug wert, denn dank Auto-Aim wird das Feuergefecht etwas zu leicht.
Klettern, Springen und Co. dienen nicht nur allein der Fortbewegung. So belohnt Sunset Overdrive den Spieler für das Aneinanderketten von Moves. Das eingeblendete Style Meter zeigt 4 Stufen, die durch rasante Manöver langsam gefüllt werden. Jede Stufe schaltet sogenannte Amps frei. Je höher die Stufe, desto effektiver und stärker sind die Amps, deren Bandbreite von Ausweichrollen über Bonusschaden der Waffen reicht.
Nochmal kurz zurück zu den Ballermännern. Natürlich setzt sich auch hier der flippige Stil des Spiels fort. Per Waffenrad hat man Zugriff auf Nah- und Fernkampfwaffen, die sich TNT Teddy, Schallplattenkanone, Eisbombe usw. nennen. Die paar Normalo-Waffen wie Shotgun oder Pistole fallen da fast schon aus dem wahnwitzigen Rahmen.
Abseits der Hauptmission dürfen in einem open world Titel die obligatorischen Nebenquests nicht fehlen. Oft genutzt um Lücken zu füllen oder die Spielzeit zu strecken, erweisen sie sich in Sunset Overdrive als echter Mehrwert. Nicht nur, dass man hier mitunter die abgedrehtesten Nebencharakteren zu Gesicht bekommt, hier sind dank der überspitzten Dialoge auch etliche Gags und Lacher garantiert. Neben den recht abwechslungsreichen Einsatzzielen warten auch wertvolle Amps darauf, vom Spieler gesammelt zu werden.
Wer vom Solospiel genug hat, darf ran an die kooperativen und kompetitiven Multiplayermodi. Besonder spaßig und absolut chaotisch spielt sich Chaoskommando, in dem 8 Spieler zeitgleich durch Sunset City wuseln. Alle Achtung, wer hier den Überblick zwischen all den Effekten behält. Vielleicht ist dieser Modus der einzige, an dem man Sunset Overdrive etwas zu viel des guten vorwerfen kann – es droht Hyperaktivität. Die stetig wechselnden Challenges sorgen für wöchentliche Abwechslung, sobald man sie sie online abgerufen hat.
Technisch läuft der Multiplayer übrigens sauber, wir hatten nur einen einzigen unerwarteten Spielabbruch. Alle anderen Partien liefen reibungslos. Die hauseigene Engine der Entwickler erfindet das Rad nicht neu, passt aber wie der Frosch zum Teich für einen solch abgedrehten Titel. Sunset Overdrive läuft konstant und butterweich, Ruckler geht der Meckerfritze verzeifelt suchen. Selbst in hitzigen Situationen mit Dutzenden von Gegnern auf der Mattschreibe bricht die Framerate nie störend ein. Die tolle Weitsicht hat es uns auch angetan, solltet ihr also in den Genuss des Spiels kommen, dann lehnt euch auf einem Häuserdach einfach mal für ein paar Sekunden zurück und genießt den Ausblick auf Sunset City. Wenn wir etwas zu Beanstanden haben, dann wären das zwei Dinge: Uns ist hier und da ein gruseliges Kantenflimmern aufgefallen und es gab einige Sequenzen, an denen das Spiel spürbar Texturen nachladen musste. Der Sound geht so voll in Ordnung, er unterstreicht das chaotische Treiben mit rockigen und punkigen Gitarrenriffs. Die Synchronisation ist durchweg gelungen und die meisten Gags sind ordentlich aus der Muttersprache transportiert worden.
Fazit
Sunset Overdrive ist in erster Linie ein völlig abgedrehter open world Shooter geworden, der mit humoristischen und verrückten Einfällen nur so um sich wirft. Die Spielmechanik funktioniert hervorragend, es macht irre Spaß, von Objekt zu Objekt zu springen, klettern oder grinden. Phantastisch, wie die Entwickler die Spielwelt gestaltet haben, in der die Bewegungsabläufe fast schon wie von Zauberhand ineinander münden. Demnach ist das Spiel nichts, aber auch absolut gar nichts, für Spieler, die ein halbwegs reales Setting fordern. Vergesst es, Sunset Overdrive bietet die volle Packung Action fernab jeder Realität.